Jorinde und Joringel KHM 69 (1857)
Märchentyp AT: 405
Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem grossen dicken Wald, darinnen wohnte
eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze
oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet.
Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sie, kochte und
briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloss nahekam, so musste er stille stehen
und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach; wenn aber eine
keusche Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel, und
sperrte sie dann in einen Korb ein, und trug den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie
hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse.
Nun war einmal eine Jungfrau, die hiess Jorinde; sie war schöner als alle anderen
Mädchen. Die und dann ein gar schöner Jüngling, namens Joringel, hatten sich zusammen
versprochen. Sie waren in den Brauttagen und sie hatten ihr grösstes Vergnügen eins am
andern.
Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald
spazieren. "Hüte dich", sagte Joringel, "dass du nicht so nahe ans Schloss
kommst." Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume
hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich auf den alten
Maibuchen.
Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte; Joringel klagte
auch. Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen; sie sahen sich um,
waren irre und wussten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die
Sonne über dem Berg und halb war sie unter. Joringel sah durchs Gebüsch und sah die alte
Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde todbang. Jorinde sang:
"Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
Singt Leide, Leide, Leide:
Es singt dem Täubelein seinen Tod,
singt Leide, Lei - zucküth, zicküth, zicküth."
Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang:
"Zicküth, Zicküth." Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie
herum und schrie dreimal "Schu, hu, hu, hu." Joringel konnte sich nicht regen:
er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuss regen.
Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte
krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: grosse rote Augen, krumme Nase, die mit der
Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort.
Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall war fort.
Endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: "Grüss dich, Zachiel,
wenns Möndel ins Körbel scheint, bind los, Zachiel, zu guter Stund." Da wurde
Joringel los. Er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie möchte ihm seine Jorinde
wiedergeben, aber sie sagte, er sollte sie nie wiederhaben, und ging fort.
Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. "Uu, was soll mir
geschehen?" Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da hütete er die
Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloss herum, aber nicht zu nahe dabei.
Endlich träumte er einmal des Nachts, er fände eine blutrote Blume, in deren Mitte
eine schöne grosse Perle war. Die Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse: alles, was
er mit der Blume berührte, ward von der Zauberei frei: auch träumte er, er hätte seine
Jorinde dadurch wiederbekommen.
Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu suchen, ob er eine
solche Blume fände; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am
Morgen früh. In der Mitte war ein grosser Tautropfe, so gross wie die schönste Perle.
Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloss. Wie er auf hundert Schritt nahe bis zum
Schloss kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Joringel freute sich
hoch, berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den
Hof, horchte, wo er die vielen Vögel vernähme; endlich hörte ers. Er ging und
fand den Saal, darauf war die Zauberin und fütterte die Vögel in den siebentausend
Körben. Wie sie den Joringel sah, ward sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle
gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht
an sie und ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele hundert
Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wiederfinden?
Indem er so zusah, merkte er, dass die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel
wegnahm und damit nach der Türe ging. Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit
der Blume und auch das alte Weib; nun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand
da, hatte ihn um den Hals gefasst, so schön, wie sie ehemals war. Da machte er auch alle
die andern Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und
sie lebten lange vergnügt zusammen.
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