Der liebste Roland KHM 56 (1857)
Märchentyp AT: 313C, 407
Es war einmal eine Frau, die war eine rechte Hexe, und hatte zwei Töchter, eine
hässlich und böse, und die liebte sie, weil sie ihre rechte Tochter war, und eine schön
und gut, die hasste sie, weil sie ihre Stieftochter war.
Zu einer Zeit hatte die Stieftochter eine schöne Schürze, die der andern gefiel, so
dass sie neidisch war und ihrer Mutter sagte, sie wollte und müsste die Schürze haben.
"Sei still, mein Kind", sprach die Alte, "du sollst sie auch haben. Deine
Stiefschwester hat längst den Tod verdient, heute nacht, wenn sie schläft, so komm und
ich haue ihr den Kopf ab. Sorge nur, dass du hinten ins Bett zu liegen kommst, und schieb
sie recht vornen hin."
Um das arme Mädchen war es geschehen, wenn es nicht gerade in einer Ecke gestanden und
alles mit angehört hätte. Es durfte den ganzen Tag nicht zur Türe hinaus, und als
Schlafenszeit gekommen war, musste es zuerst ins Bett steigen, damit sie sich hinten
hinlegen konnte; als sie aber eingeschlafen war, da schob es sie sachte vornen hin und
nahm den Platz hinten an der Wand. In der Nacht kam die Alte geschlichen, in der rechten
Hand hielt sie eine Axt, mit der linken fühlte sie erst, ob auch jemand vornen lag, und
dann fasste sie die Axt mit beiden Händen, hieb und hieb ihrem eigenen Kind den Kopf ab.
Als sie fortgegangen war, stand das Mädchen auf und ging zu seinem Liebsten, der Roland
hiess, und klopfte an seine Türe. Als er herauskam, sprach sie zu ihm: "Höre,
liebster Roland, wir müssen eilig flüchten, die Stiefmutter hat mich totschlagen wollen,
hat aber ihr eigenes Kind getroffen. Kommt der Tag, und sie sieht, was sie getan hat, so
sind wir verloren."
"Aber ich rate dir", sagte Roland, "dass du erst ihren Zauberstab
wegnimmst, sonst können wir uns nicht retten, wenn sie uns nachsetzt und verfolgt."
Das Mädchen holte den Zauberstab, und dann nahm es den toten Kopf und tröpfelte drei
Blutstropfen auf die Erde, einen vors Bett, einen in die Küche und einen auf die Treppe.
Darauf eilte es mit seinem Liebsten fort.
Als nun am Morgen die alte Hexe aufgestanden war, rief sie ihre Tochter, und wollte ihr
die Schürze geben, aber sie kam nicht. Da rief sie: "Wo bist du?"
"Ei, hier auf der Treppe, da kehr ich", antwortete der eine Blutstropfen. Die
Alte ging hinaus, sah aber niemand auf der Treppe und rief abermals: "Wo bist
du?"
"Ei, hier in der Küche, da wärm ich mich", rief der zweite Blutstropfen.
Sie ging in die Küche, aber sie fand niemand. Da rief sie noch einmal "wo bist
du?"
"Ach, hier im Bette, da schlaf ich", rief der dritte Blutstropfen. Sie ging
in die Kammer ans Bett. Was sah sie da? Ihr eigenes Kind, das in seinem Blute schwamm, und
dem sie selbst den Kopf abgehauen hatte.
Die Hexe geriet in Wut, sprang ans Fenster, und da sie weit in die Welt schauen konnte,
erblickte sie ihre Stieftochter, die mit ihrem Liebsten Roland forteilte. "Das soll
euch nichts helfen", rief sie, "wenn ihr auch schon weit weg seid, ihr entflieht
mir doch nicht."
Sie zog ihre Meilenstiefel an, in welchen sie mit jedem Schritt eine Stunde machte, und
es dauerte nicht lange, so hatte sie beide eingeholt. Das Mädchen aber, wie es die Alte
daherschreiten sah, verwandelte mit dem Zauberstab seinen Liebsten Roland in einen See,
sich selbst aber in eine Ente, die mitten auf dem See schwamm. Die Hexe stellte sich ans
Ufer, warf Brotbrocken hinein und gab sich alle Mühe, die Ente herbeizulocken; aber die
Ente liess sich nicht locken, und die Alte musste abends unverrichteter Sache wieder
umkehren.
Darauf nahm das Mädchen mit seinem Liebsten Roland wieder die natürliche Gestalt an,
und sie gingen die ganze Nacht weiter bis zu Tagesanbruch. Da verwandelte sich das
Mädchen in eine schöne Blume, die mitten in einer Dornhecke stand, seinen Liebsten
Roland aber in einen Geigenspieler. Nicht lange, so kam die Hexe herangeschritten und
sprach zu dem Spielmann: "Lieber Spielmann, darf ich mir wohl die schöne Blume
abbrechen?" "0 ja", antwortete er, "ich will dazu aufspielen."
Als sie nun mit Hast in die Hecke kroch und die Blume brechen wollte, denn sie wusste
wohl, wer die Blume war, so fing er an aufzuspielen, und, sie mochte wollen oder nicht,
sie musste tanzen, denn es war ein Zaubertanz. Je schneller er spielte, desto gewaltigere
Sprünge musste sie machen, und die Dornen rissen ihr die Kleider vom Leibe, stachen sie
blutig und wund, und da er nicht aufhörte, musste sie so lange tanzen, bis sie tot liegen
blieb.
Als sie nun erlöst waren, sprach Roland: "Nun will ich zu meinem Vater gehen und
die Hochzeit bestellen." "So will ich derweil hier bleiben", sagte das
Mädchen, "und auf dich warten, und damit mich niemand erkennt, will ich mich in
einen roten Feldstein verwandeln." Da ging Roland fort, und das Mädchen stand als
ein roter Stein auf dem Felde und wartete auf seinen Liebsten.
Als aber Roland heim kam, geriet er in die Fallstricke einer andern, die es dahin
brachte, dass er das Mädchen vergass. Das arme Mädchen stand lange Zeit, als er aber
endlich gar nicht wiederkam, so ward es traurig und verwandelte sich in eine Blume und
dachte: "Es wird ja wohl einer dahergehen und mich umtreten."
Es trug sich aber zu, dass ein Schäfer auf dem Felde seine Schafe hütete und die
Blume sah, und weil sie so schön war, so brach er sie ab, nahm sie mit sich, und legte
sie in seinen Kasten. Von der Zeit ging es wunderlich in des Schäfers Hause zu. Wenn er
morgens aufstand, so war schon alle Arbeit getan: die Stube war gekehrt, Tische und Bänke
abgeputzt, Feuer auf den Herd gemacht und Wasser getragen; und mittags, wenn er heim kam,
war der Tisch gedeckt und ein gutes Essen aufgetragen. Er konnte nicht begreifen, wie das
zuging, denn er sah niemals einen Menschen in seinem Haus, und es konnte sich auch niemand
in der kleinen Hütte versteckt haben. Die gute Aufwartung gefiel ihm freilich, aber
zuletzt ward ihm doch angst, so dass er zu einer weisen Frau ging und sie um Rat fragte.
Die weise Frau sprach: "Es"es steckt Zauberei dahinter; gib einmal morgens in
aller Frühe acht, ob sich etwas in der Stube regt, und wenn du etwas siehst, es mag sein,
was es will, so wirf schnell ein weisses Tuch darüber, dann wird der Zauber
gehemmt." Der Schäfer tat, wie sie gesagt hatte, und am andern Morgen, eben als der
Tag anbrach, sah er, wie sich der Kasten auftat und die Blume herauskam.
Schnell sprang er hinzu und warf ein weisses Tuch darüber. Alsbald war die Verwandlung
vorbei, und ein schönes Mädchen stand vor ihm, das bekannte ihm, dass es die Blume
gewesen wäre und seinen Haushalt bisher besorgt hätte. Es erzählte ihm sein Schicksal,
und weil es ihm gefiel, fragte er, ob es ihn heiraten wollte, aber es antwortete
"nein", denn es wollte seinem Liebsten Roland, obgleich er es verlassen hatte,
doch treu bleiben: aber es versprach, dass es nicht weggehen, sondern ihm fernerhin
haushalten wollte.
Nun kam die Zeit heran, dass Roland Hochzeit halten sollte: da ward nach altem Brauch
im Lande bekanntgemacht, dass alle Mädchen sich einfinden und zu Ehren des Brautpaars
singen sollten. Das treue Mädchen, als es davon hörte, ward so traurig, dass es meinte,
das Herz im Leibe würde ihm zerspringen, und wollte nicht hingehen, aber die andern kamen
und holten es herbei. Wenn aber die Reihe kam, dass es singen sollte, so trat es zurück,
bis es allein noch übrig war, da konnte es nicht anders.
Aber wie es seinen Gesang anfing, und er zu Rolands Ohren kam, so sprang er auf und
rief: "Die Stimme kenne ich, das ist die rechte Braut, eine andere begehr ich
nicht." Alles, was er vergessen hatte und ihm aus dem Sinn verschwunden war, das war
plötzlich in sein Herz wieder heimgekommen. Da hielt das treue Mädchen Hochzeit mit
seinem Liebsten Roland, und war sein Leid zu Ende und fing seine Freude an.
top