Fundevogel KHM 51 (1857)
Märchentyp AT: 313A
Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald
kam, hörte er schreien, als obs ein kleines Kind wäre. Er ging dem Schreien nach
und kam endlich zu einem hohen Baum, und oben darauf sass ein kleines Kind. Es war aber
die Mutter mit dem Kinde unter dem Baum eingeschlafen, und ein Raubvogel hatte das Kind in
ihrem Schosse gesehen: da war er hinzugeflogen, hatte es mit seinem Schnabel weggenommen
und auf den hohen Baum gesetzt.
Der Förster stieg hinauf, holte das Kind herunter und dachte: "Du willst das Kind
mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehn." Er brachte es also
heim, und die zwei Kinder wuchsen miteinander auf. Das aber, das auf dem Baum gefunden
worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde Fundevogel geheissen.
Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, dass, wenn eins das andere nicht
sah, ward es traurig.
Der Förster hatte aber eine alte Köchin, die nahm eines Abends zwei Eimer und fing an
Wasser zu schleppen, und ging nicht einmal, sondern vielemal hinaus an den Brunnen.
Lenchen sah es und sprach: "Hör einmal, alte Sanne, was trägst du denn so viel
Wasser zu?"
"Wenn dus keinem Menschen wiedersagen willst, so will ich dirs wohl
sagen." Da sagte Lenchen, nein, sie wollte es keinem Menschen wiedersagen, so sprach
die Köchin: "Morgen früh, wenn der Förster auf die Jagd ist, da koche ich das
Wasser, und wenns im Kessel siedet, werfe ich den Fundevogel ´nein, und will ihn
darin kochen."
Des andern Morgens in aller Frühe stieg der Förster auf und ging auf die Jagd, und
als er weg war, lagen die Kinder noch im Bett. Da sprach Lenchen zum Fundevogel:
"Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht."
So sprach der Fundevogel: "Nun und nimmermehr." Da sprach Lenchen: "Ich
will es dir nur sagen, die alte Sanne schleppte gestern abend so viel Eimer Wasser ins
Haus, da fragte ich sie, warum sie das täte, so sagte sie, wenn ich es keinem Menschen
sagen wollte, so wollte sie es mir wohl sagen; sprach ich, ich wollte es gewiss keinem
Menschen sagen; da sagte sie, morgen früh, wenn der Vater auf die Jagd wäre, wollte sie
den Kessel voll Wasser sieden, dich hineinwerfen und kochen. Wir wollen aber geschwind
aufstehen, uns anziehen und zusammen fortgehen."
Also standen die beiden Kinder auf, zogen sich geschwind an und gingen fort. Wie nun
das Wasser im Kessel kochte, ging die Köchin in die Schlafkammer, wollte den Fundevogel
holen und ihn hineinwerfen. Aber als sie hinein kam und zu den Betten trat, waren die
Kinder alle beide fort: da wurde ihr grausam angst, und sie sprach vor sich: "Was
will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht, dass die Kinder weg sind?
Geschwind hintennach, dass wir sie wiederkriegen."
Da schickte die Köchin drei Knechte nach, die sollten laufen und die Kinder einfangen.
Die Kinder aber sassen vor dem Wald, und als sie die drei Knechte von weitem laufen sahen,
sprach Lenchen zum Fundevogel: "Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch
nicht."
So sprach Fundevogel: "Nun und nimmermehr." Da sagte Lenchen: "Werde du
zum Rosenstöckchen, und ich zum Röschen darauf."
Wie nun die drei Knechte vor den Wald kamen, so war nichts da als ein Rosenstrauch und
ein Röschen oben drauf, die Kinder aber nirgend. Da sprachen sie: "Hier ist nichts
zu machen", und gingen heim und sagten der Köchin, sie hätten nichts in der Welt
gesehen als nur ein Rosenstöckchen und ein Röschen oben darauf. Da schalt die alte
Köchin: "Ihr Einfaltspinsel, ihr hättet das Rosenstöckchen sollen entzweischneiden
und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen, geschwind und tuts." Sie
mussten also zum zweitenmal hinaus und suchen.
Die Kinder sahen sie aber von weitem kommen, da sprach Lenchen: "Fundevogel,
verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht." Fundevogel sagte: "Nun
und nimmermehr." Sprach Lenchen: "So werde du eine Kirche und ich die Krone
darin."
Wie nun die drei Knechte dahinkamen, war nichts da als eine Kirche und eine Krone
darin. Sie sprachen also zueinander: "Was sollen wir hier machen, lasst uns nach
Hause gehen." Wie sie nach Haus kamen, fragte die Köchin, ob sie nichts gefunden
hätten; so sagten sie, nein, sie hätten nichts gefunden als eine Kirche, da wäre eine
Krone darin gewesen.
"Ihr Narren", schalt die Köchin, "warum habt ihr nicht die Kirche
zerbrochen und die Krone mit heimgebracht?" Nun machte sich die alte Köchin selbst
auf die Beine und ging mit den drei Knechten den Kindern nach. Die Kinder sahen aber die
drei Knechte von weitem kommen, und die Köchin wackelte hinten nach.
Da sprach Lenchen: "Fundevogel, verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch
nicht." Da sprach der Fundevogel: "Nun und nimmermehr. Sprach Lenchen:
"Werde zum Teich und ich die Ente drauf." Die Köchin aber kam herzu, und als
sie den Teich sah, legte sie sich drüberhin und wollte ihn aussaufen. Aber die Ente kam
schnell geschwommen, fasste sie mit ihrem Schnabel beim Kopf und zog sie ins Wasser
hinein: da musste die alte Hexe ertrinken. Da gingen die Kinder zusammen nach Haus und
waren herzlich froh; und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch.
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