Dornröschen KHM 50 (1857)
Märchentyp AT: 410
Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: "Ach, wenn wir
doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin
einmal im Bade sass, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach:
"Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur
Welt bringen."
Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war
so schön, dass der König vor Freude sich nicht zu lassen wusste und ein grosses Fest
anstellte. Er ladete nicht bloss seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die
weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer
dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie
essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben.
Das Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen
Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die
dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre
Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür
rächen, dass sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüssen oder nur anzusehen,
rief sie mit lauter Stimme: "Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr
an einer Spindel stechen und tot hinfallen." Und ohne ein Wort weiter zu sprechen,
kehrte sie sich um und verliess den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte
hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben,
sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: "Es soll aber kein Tod sein, sondern
ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt."
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, liess den
Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche vebrannt werden. An dem
Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es war so
schön, sittsam, freundlich und verständig, dass es jedermann, er es ansah, lieb haben
musste. Es geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und
die Königin nicht zu Haus waren, und das Mädchen ganz allein im Schloss zurückblieb. Da
ging es allerorten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich
auch an einen alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer
kleinen Türe. In dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte,
sprang die Türe auf, und sass da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer
Spindel und spann emsig ihren Flachs.
"Guten Tag, du altes Mütterchen", sprach die Königstochter, "was
machst du da?" "Ich spinne", sagte die Alte und nickte mit dem Kopf
."Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?" sprach das Mädchen,
nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel angerührt, so
ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit in den Finger. In dem
Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder das da stand, und
lag in einem tiefen Schlaf.
Und dieser Schlaf verbreite sich über das ganze Schloss: der König und die Königin,
die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen und
der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe,
die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde
flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der
Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte,
liess ihn los und schlief. Und der Wind legt sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss
regte sich kein Blättchen mehr. Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu
wachsen, die jedes Jahr höher ward, und endlich das ganze Schloss umzog und darüber
hinauswuchs, dass gar nichts davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf den Dach.
Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen schlafenden Dornröschen, denn so
ward die Königstochter genannt, also dass von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch
die Hecke in das Schloss dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich, denn die
Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin
hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.
Nach langen Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land, und hörte, wie ein
alter Mann von der Dornenhecke erzählte, es sollte ein Schloss dahinter stehen, in
welchem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schon seit hundert Jahren
schliefe, und mit ihr der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wusste auch
von seinem Grossvater, dass schon viele Königssöhne gekommen wären und versucht
hätten, durch die Dornenhecke zu dringen, aber sie wären darin hängengeblieben und
eines traurigen Todes gestorben. Da sprach der Jüngling: "Ich fürchte mich nicht,
ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen." Der gute Alte mochte ihm
abraten, wie er wollte, er hörte nicht auf seine Worte. Nun waren aber gerade die hundert
Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als
der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter grosse schöne Blumen, die
taten sich von selbst auseinander und liessen ihn unbeschädigt hindurch, und hinter ihm
taten sie sich wieder als Hecke zusammen. Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen
Jagdhunde liegen und schlafen, auf dem Dach sassen die Tauben und hatten das Köpfchen
unter den Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand,
der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den Jungen anpacken, und die
Magd sass vor dem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden.
Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben
bei dem Throne lag der König und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so
still, dass einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turm und öffnete
die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so
schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen
Kuss.
Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte, und
blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König erwachte und
die Königin und der ganze Hofstaat, und sahen einander mit grossen Augen an. Und die
Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten; die
Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins
Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich,
flackerte und kochte das Essen; der Braten fing wieder an zu brutzeln; und der Koch gab
dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig.
Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht
gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.
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