Die sechs Schwäne KHM 49 (1857)
Märchentyp AT: 451
Es jagte einmal ein König in einem grossen Wald und jagte einem Wild so eifrig nach,
dass ihm niemand von seinen Leuten folgen konnte. Als der Abend herankam, hielt er still
und blickte um sich, da sah er, dass er sich verirrt hatte. Er suchte einen Ausgang,
konnte aber keinen finden. Da sah er eine alte Frau mit wackelndem Kopfe, die auf ihn
zukam; das war aber eine Hexe. "Liebe Frau", sprach er zu ihr, "könnt Ihr
mir nicht den Weg durch den Wald zeigen?" "O ja, Herr König", antwortete
sie, "das kann ich wohl, aber es ist eine Bedingung dabei, wenn Ihr die nicht
erfüllt, so kommt Ihr nimmermehr aus dem Wald und müsst darin Hungers sterben."
"Was ist das für eine Bedingung?" fragte der König. "Ich habe eine
Tochter", sagte die Alte, "die so schön ist, wie Ihr eine auf der Welt finden
könnt, und wohl verdient, Eure Gemahlin zu werden, wollt Ihr die zur Frau Königin
machen, so zeige ich Euch den Weg aus dem Walde." Der König in der Angst seines
Herzens willigte ein, und die Alte führte ihn zu ihrem Häuschen, wo ihre Tochter beim
Feuer sass. Sie empfing den König, als wenn sie ihn erwartet hätte, und er sah wohl,
dass sie sehr schön war, aber sie gefiel ihm doch nicht, und er konnte sie ohne
heimliches Grausen nicht ansehen. Nachdem er das Mädchen zu sich aufs Pferd gehoben
hatte, zeigte ihm die Alte den Weg, und der König gelangte wieder in sein königliches
Schloss, wo die Hochzeit gefeiert wurde.
Der König war schon einmal verheiratet gewesen, und hatte von seiner ersten Gemahlin
sieben Kinder, sechs Knaben und ein Mädchen, die er über alles auf der Welt liebte. Weil
er nun fürchtete, die Stiefmutter möchte sie nicht gut behandeln und ihnen gar ein Leid
antun, so brachte er sie in ein einsames Schloss, das mitten in einem Walde stand. Es lag
so verborgen, und der Weg war so schwer zu finden, dass er ihn selbst nicht gefunden
hätte, wenn ihm nicht eine weise Frau ein Knäuel Garn von wunderbarer Eigenschaft
geschenkt hätte; wenn er das vor sich hinwarf, so wickelte es sich von selbst los und
zeigte ihm den Weg.
Der König ging aber so oft hinaus zu seinen lieben Kindern, dass der Königin seine
Abwesenheit auffiel; sie war neugierig und wollte wissen, was er draussen ganz allein in
dem Walde zu schaffen habe. Sie gab seinen Dienern viel Geld, und die verrieten ihr das
Geheimnis und sagten ihr auch von dem Knäuel, das allein den Weg zeigen könnte. Nun
hatte sie keine Ruhe, bis sie herausgebracht hatte, wo der König das Knäuel aufbewahrte,
und dann machte sie kleine weissseidene Hemdchen, und da sie von ihrer Mutter die
Hexenkünste gelernt hatte, so nähete sie einen Zauber hinein. Und als der König einmal
auf die Jagd geritten war, nahm sie die Hemdchen und ging in den Wald, und das Knäuel
zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten, ihr lieber
Vater käme zu ihnen, und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie über ein jedes
eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sie sich in
Schwäne und flogen über den Wald hinweg.
Die Königin ging ganz vergnügt nach Haus und glaubte ihre Stiefkinder los zu sein,
aber das Mädchen war ihr mit den Brüdern nicht entgegen gelaufen, und sie wusste nichts
von ihm. Andern Tags kam der König und wollte seine Kinder besuchen, er fand aber niemand
als das Mädchen. "Wo sind deine Brüder?" fragte der König. "Ach, lieber
Vater", antwortete es, "die sind fort und haben mich allein
zurückgelassen", und erzählte ihm, dass es aus seinem Fensterlein mit angesehen
habe, wie seine Brüder als Schwäne über den Wald weggeflogen wären, und zeigte ihm die
Federn, die sie in dem Hof hatten fallen lassen, und die es aufgelesen hatte. Der König
trauerte, aber er dachte nicht, dass die Königin die böse Tat vollbracht hätte, und
weil er fürchtete, das Mädchen würde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen.
Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter, und bat den König, dass es nur noch diese Nacht
im Waldschloss bleiben dürfte.
Das arme Mädchen dachte: "Meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen
und meine Brüder suchen." Und als die Nacht kam, entfloh es, und ging gerade in den
Wald hinein. Es ging die ganze Nacht durch und auch den andern Tag in einem fort, bis es
vor Müdigkeit nicht weiter konnte. Da sah es eine Wildhütte, stieg hinauf und fand eine
Stube mit sechs kleinen Betten, aber es getraute nicht sich in eins zu legen, sondern
kroch unter eins, legte sich auf den harten Boden und wollte die Nacht da zubringen. Als
die Sonne bald untergehen wollte, hörte es ein Rauschen und sah, da sechs Schwäne zum
Fenster hereingeflogen kamen. Sie setzten sich auf den Boden, und bliesen einander an und
bliesen sich alle Federn ab, und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd. Da sah
sie das Mädchen an und erkannte ihre Brüder, freute sich und kroch unter dem Bett
hervor. Die Brüder waren nicht weniger erfreut, als sie ihr Schwesterchen erblickten,
aber ihre Freude war von kurzer Dauer. "Hier kann deines Bleibens nicht sein",
sprachen sie zu ihm, "das ist eine Herberge für Räuber, wenn die heim kommen und
finden dich, so ermorden sie dich."
"Könnt ihre mich denn nicht beschützen?" fragte das Schwesterchen.
"Nein", antworteten sie, "denn wir können nur eine Viertelstunde lang
jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen, und haben in dieser Zeit unsere menschliche
Gestalt, aber dann werden wir wieder in Schwäne verwandelt." Das Schwesterchen
weinte und sagte: "Könnt ihr denn nicht erlöst werden?" "Ach nein",
antworteten sie, "die Bedingungen sind zu schwer. Du darfst sechs Jahre lang nicht
sprechen und nicht lachen, und musst in der Zeit sechs Hemdchen für uns aus Sternblumen
zusammennähen. Kommt ein einziges Wort aus deinem Munde, so ist alle Arbeit
verloren." Und als die Brüder das gesprochen hatten, war die Viertelstunde herum,
und sie flogen als Schwäne wieder zum Fenster hinaus. Das Mädchen aber fasste den festen
Entschluss, seine Brüder zu erlösen, und wenn es auch sein Leben kostete. Es verliess
die Wildhütte, ging mitten in den Wald und setzte sich auf einen Baum und brachte da die
Nacht zu.
Am andern Morgen ging es aus, sammelte Sternblumen und fing an zu nähen. Reden konnte
es mit niemand, und zum Lachen hatte es keine Lust: es sass da und sah nur auf seine
Arbeit. Als es schon lange Zeit da zugebracht hatte, geschah es, dass der König des
Landes in dem Wald jagte und seine Jäger zu dem Baum kamen, auf welchem das Mädchen
sass. Sie riefen es an und sagten: "Wer bist du?" Es gab aber keine Antwort.
"Komm herab zu uns", sagten sie, "wir wollen dir nichts zuleid tun."
Es schüttelte bloss mit dem Kopf. Als sie es weiter mit Fragen bedrängten, so warf es
ihnen seine goldene Halskette herab und dachte sie damit zufrieden zu stellen. Sie liessen
aber nicht ab, da warf es ihnen seinen Gürtel herab, und als auch das nichts half, seine
Strumpfbänder, und nach und nach alles, was es anhatte und entbehren konnte, so dass es
nicht mehr als sein Hemdlein behielt.
Die Jäger liessen sich aber damit nicht abweisen, stiegen auf den Baum, hoben das
Mädchen herab und führten es vor den König. Der König fragte: "Wer bist du? Was
machst du auf dem Baum?" Aber es antwortete nicht. Er fragte es in allen Sprachen,
die er wusste, aber es blieb stumm wie ein Fisch. Weil es aber so schön war, so ward des
Königs Herz gerührt, und er fasste eine grosse Liebe zu ihm. Er tat ihm seinen Mantel
um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloss. Da liess er ihm reiche
Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein
Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine
bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, dass er sprach:
"Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt", und nach einigen
Tagen vermählte er sich mit ihr.
Der König aber hatte eine böse Mutter, die war unzufrieden mit dieser Heirat und
sprach schlecht von der jungen Königin. "Wer weiss, wo die Dirne her ist",
sagte sie, "die nicht reden kann; sie ist eines König[s] nicht würdig." Über
ein Jahr, als die Königin das erste Kind zur Welt brachte, nahm es ihr die Alte weg und
bestrich ihr im Schlafe den Mund mit Blut. Da ging sie zum König und klagte sie an, sie
wäre eine Menschenfresserin. Der König wollte es nicht glauben und litt nicht, dass man
ihr ein Leid antat. Sie sass aber beständig und nähete an den Hemdchen, und achtete auf
nichts anderes. Das nächstemal, als sie wieder einen schönen Knaben gebar, übte die
falsche Schwiegermutter denselben Betrug aus, aber der König konnte sich nicht
entschliessen, ihren Reden Glauben beizumessen. Er sprach: "Sie ist zu fromm und gut,
als dass sie so etwas tun könnte, wäre sie nicht stumm und könnte sie sich verteidigen,
so würde ihre Unschuld an den Tag kommen." Als aber das drittemal die Alte das
neugeborne Kind raubte und die Königin anklagte, die kein Wort zu ihrer Verteidigung
vorbrachte, so konnte der König nicht anders, er musste sie dem Gericht übergeben, und
das verurteilte sie, den Tod durchs Feuer zu erleiden.
Als der Tag herankam, wo das Urteil sollte vollzogen werden, da war zugleich der letzte
Tag von den sechs Jahren herum, in welchem sie nicht sprechen und nicht lachen durfte, und
sie hatte ihre lieben Brüder aus der Macht des Zaubers befreit. Die sechs Hemden waren
fertig geworden, nur dass an dem letzten der linke Ärmel noch fehlte. Als sie nun zum
Scheiterhaufen geführt wurde, legte sie die Hemden auf ihren Arm und als sie oben stand
und das Feuer eben sollte angezündet werden, so schaute sie sich um, da kamen sechs
Schwäne durch die Luft dahergezogen. Da sah sie, dass ihre Erlösung nahte, und ihr Herz
regte sich in Freude. Die Schwäne rauschten zu ihr her und senkten sich herab, so dass
sie ihnen die Hemden überwerfen konnte: und ihre Brüder standen leibhaftig vor ihr und
waren frisch und schön; nur dem jüngsten fehlte der linke Arm, und er hatte dafür einen
Schwanenflügel am Rücken. Sie herzten und küssten sich, und die Königin ging zu dem
Könige, der ganz bestürzt war, und fing an zu reden und sagte: "Liebster Gemahl,
nun darf ich sprechen und dir offenbaren, dass ich unschuldig bin und fälschlich
angeklagt", und erzählte ihm von dem Betrug der Alten, die ihre drei Kinder
weggenommen und verborgen hätte.
Da wurden sie zu grosser Freude des Königs herbeigeholt, und die böse Schwiegermutter
wurde zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu Asche verbrannt. Der König aber
und die Königin mit ihren sechs Brüdern lebten lange Jahre in Glück und Frieden.
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