Das Mädchen ohne Hände KHM 31 (1857)
Märchentyp AT: 706
Ein Müller war nach und nach in Armut geraten und hatte nichts mehr als seine Mühle
und einen grossen Apfelbaum dahinter. Einmal war er in den Wald gegangen, Holz zu holen,
da trat ein alter Mann zu ihm, den er noch niemals gesehen hatte, und sprach: "Was
quälst du dich mit Holzhacken, ich will dich reich machen, wenn du mir versprichst, was
hinter deiner Mühle steht."
"Was kann da anders sein als mein Apfelbaum?" dachte der Müller, sagte
"ja", und verschrieb es dem fremden Manne. Der aber lachte höhnisch und sagte:
"Nach drei Jahren will ich kommen und abholen, was mir gehört", und ging fort.
Als der Müller nach Haus kam, trat ihm seine Frau entgegen und sprach: "Sage mir,
Müller, woher kommt der plötzliche Reichtum in unser Haus? Auf einmal sind alle Kisten
und Kasten voll, kein Mensch hats hereingebracht, und ich weiss nicht, wie es
zugegangen ist." Er antwortete: "Das kommt von einem fremden Manne, der mir im
Walde begegnet ist und mir grosse Schätze verheilen hat; ich habe ihm dagegen
verschrieben, was hinter der Mühle steht: den grossen Apfelbaum können wir wohl dafür
geben." "Ach, Mann", sagte die Frau erschrocken, "das ist der Teufel
gewesen: den Apfelbaum hat er nicht gemeint, sondern unsere Tochter, die stand hinter der
Mühle und kehrte den Hof."
Die Müllerstochter war ein schönes und frommes Mädchen und lebte die drei Jahre in
Gottesfurcht und ohne Sünde. Als nun die Zeit herum war, und der Tag kam, wo sie der
Böse holen wollte, da wusch sie sich rein und machte mit Kreide einen Kranz um sich. Der
Teufel erschien ganz frühe, aber er konnte ihr nicht nahekommen. Zornig sprach er zum
Müller: "Tu ihr alles Wasser weg, damit sie sich nicht mehr waschen kann, denn sonst
habe ich keine Gewalt über sie." Der Müller fürchtete sich und tat es.
Am andern Morgen kam der Teufel wieder, aber sie hatte auf ihre Hände geweint, und sie
waren ganz rein. Da konnte er ihr wiederum nicht nahen und sprach wütend zum Müller:
"Hau ihr die Hände ab, sonst kann ich ihr nichts anhaben." Der Müller
entsetzte sich und antwortete: "Wie könnt ich meinem eigenen Kinde die Hände
abhauen!" Da drohte ihm der Böse und sprach: "Wo du es nicht tust, so bist du
mein, und ich hole dich selber." Dem Vater ward angst, und er versprach, ihm zu
gehorchen. Da ging er zu dem Mädchen und sagte: "Mein Kind, wenn ich dir nicht beide
Hände abhaue, so führt mich der Teufel fort, und in der Angst hab ich es ihm
versprochen. Hilf mir doch in meiner Not und verzeihe mir, was ich Böses an dir
tue." Sie antwortete: "Lieber Vater, macht mit mir, was Ihr wollt, ich bin Euer
Kind." Darauf legte sie beide Hände hin und liess sie sich abhauen.
Der Teufel kam zum drittenmal, aber sie hatte so lange und so viel auf die Stümpfe
geweint, dass sie doch ganz rein waren. Da musste er weichen und hatte alles Recht auf sie
verloren. Der Müller sprach zu ihr: "Ich habe so grosses Gut durch dich gewonnen,
ich will dich zeitlebens aufs köstlichste halten." Sie antwortete aber: "Hier
kann ich nicht bleiben: ich will fortgehen; mitleidige Menschen werden mir schon so viel
geben, als ich brauche." Darauf liess sie sich die verstümmelten Arme auf den
Rücken binden, und mit Sonnenaufgang machte sie sich auf den Weg und ging den ganzen Tag,
bis es Nacht ward. Da kam sie zu einem königlichen Garten, und beim Mondschimmer sah sie,
dass Bäume voll schöner Früchte darin standen; aber sie konnte nicht hinein, denn es
war ein Wasser darum. Und weil sie den ganzen Tag gegangen war und keinen Bissen genossen
hatte, und der Hunger sie quälte, so dachte sie: "Ach, wäre ich darin, damit ich
etwas von den Früchten ässe, sonst muss ich verschmachten." Da kniete sie nieder,
rief Gott den Herrn an und betete. Auf einmal kam ein Engel daher, der machte eine
Schleuse in dem Wasser zu, so dass der Graben trocken ward und sie hindurchgehen konnte.
Nun ging sie in den Garten, und der Engel ging mit ihr. Sie sah einen Baum mit Obst, das
waren schöne Birnen, aber sie waren alle gezählt. Da trat sie hinzu und ass eine mit dem
Munde vom Baume ab, ihren Hunger zu stillen, aber nicht mehr. Der Gärtner sah es mit an,
weil aber der Engel dabeistand, fürchtete er sich und meinte, das Mädchen wäre ein
Geist, schwieg still und getraute nicht zu rufen oder den Geist anzureden. Als sie die
Birne gegessen hatte, war sie gesättigt, und ging und versteckte sich in das Gebüsch.
Der König, dem der Garten gehörte, kam am anderen Morgen herab, da zählte er und
sah, dass eine der Birnen fehlte, und fragte den Gärtner, wo sie hingekommen wäre: sie
läge nicht unter dem Baume und wäre doch weg. Da antwortete der Gärtner: "Vorige
Nacht kam ein Geist herein, der hatte keine Hände und ass eine mit dem Munde ab."
Der König sprach: "Wie ist der Geist über das Wasser hereingekommen? Und wo ist er
hingegangen, nachdem er die Birne gegessen hatte?" Der Gärtner antwortete: "Es
kam jemand in schneeweissem Kleide vom Himmel, der hat die Schleuse zugemacht und das
Wasser gehemmt, damit der Geist durch den Graben gehen konnte. Und weil es ein Engel muss
gewesen sein, so habe ich mich gefürchtet, nicht gefragt und nicht gerufen. Als der
König sprach: "Verhält es sich, wie du sagst, so will ich diese Nacht bei dir
wachen." Als es dunkel ward, kam der König in den Garten, und brachte einen Priester
mit, der sollte den Geist anreden. Alle drei setzten sich unter den Baum und gaben acht.
Um Mitternacht kam das Mädchen aus dem Gebüsch gekrochen, trat zu dem Baum, und ass
wieder mit dem Munde eine Birne ab; neben ihr aber stand der Engel im weissen Kleide. Da
ging der Priester hervor und sprach: "Bist du von Gott gekommen oder von der Welt?
Bist du ein Geist oder ein Mensch?" Sie antwortete: "Ich bin kein Geist, sondern
ein armer Mensch, von allen verlassen, nur von Gott nicht." Der König sprach:
"Wenn du von aller Welt verlassen bist, so will ich dich nicht verlassen." Er
nahm sie mit sich in sein königliches Schloss, und weil sie so schön und fromm war,
liebte er sie von Herzen, liess ihr silberne Hände machen und nahm sie zu seiner
Gemahlin. Nach einem Jahr musste der König über Feld ziehen, da befahl er die junge
Königin seiner Mutter und sprach:"Wenn sie ins Kindbett kommt, so haltet und pflegt
sie wohl und schreibt mirs gleich in einem Briefe."
Nun gebar sie einen schönen Sohn. Da schrieb es die alte Mutter eilig und meldete ihm
die frohe Nachricht. Der Bote aber ruhte unterwegs an einem Bache, und da er von dem
langen Wege ermüdet war, schlief er ein. Da kam der Teufel, welcher der frommen Königin
immer zu schaden trachtete, und vertauschte den Brief mit einem andern, darin stand, dass
die Königin einen Wechselbalg zur Welt gebracht hätte.
Als der König den Brief las, erschrak er und betrübte sich sehr, doch schrieb er zur
Antwort, sie sollten die Königin wohl halten und pflegen bis zu seiner Ankunft. Der Bote
ging mit dem Brief zurück, ruhte an der nämlichen Stelle und schlief wieder ein. Da kam
der Teufel abermals und legte ihm einen andern Brief in die Tasche, darin stand, sie
sollten die Königin mit ihrem Kinde töten. Die alte Mutter erschrak heftig, als sie den
Brief erhielt, konnte es nicht glauben und schrieb dem Könige noch einmal, aber sie bekam
keine andere Antwort, weil der Teufel dem Boten jedesmal einen falschen Brief unterschob;
und in dem letzten Briefe stand noch, sie sollten zum Wahrzeichen Zunge und Augen der
Königin aufheben. Aber die alte Mutter weinte, dass so unschuldiges Blut sollte vergossen
werden, liess in der Nacht eine Hirschkuh holen, schnitt ihr Zunge und Augen aus und hob
sie auf. Dann sprach sie zu der Königin: "Ich kann dich nicht töten lassen, wie der
König befiehlt, aber länger darfst du nicht hier bleiben: geh mit deinem Kind in die
weite Welt hinein und komme nie wieder zurück." Sie band ihr das Kind auf den
Rücken, und die arme Frau ging mit weiniglichen Augen fort.
Sie kam in einen grossen wilden Wald, da setzte sie sich auf ihre Knie und betete zu
Gott, und der Engel des Herrn erschien ihr und führte sie zu seinem kleinen Haus, darin
war ein Schildchen mit den Worten "Hier wohnt ein jeder frei." Aus dem Häuschen
kam eine schneeweisse Jungfrau, die sprach: "Willkommen, Frau Königin", und
führte sie hinein. Da band sie ihr den kleinen Knaben von dem Rücken und hielt ihn an
ihre Brust, damit er trank, und legte ihn dann auf ein schönes gemachtes Bettchen. Da
sprach die arme Frau: "Woher weisst du, dass ich eine Königin war?" Die weisse
Jungfrau antwortete: "Ich bin ein Engel, von Gott gesandt, dich und dein Kind zu
verpflegen." Da blieb sie in dem Hause sieben Jahre, und war wohl verpflegt, und
durch Gottes Gnade wegen ihrer Frömmigkeit wuchsen ihr die abgehauenen Hände wieder.
Der König kam endlich aus dem Felde wieder nach Haus, und sein erstes war, dass er
seine Frau mit dem Kind sehen wollte. Da fing die alte Mutter an zu weinen und sprach:
"Du böser Mann, was hast du mir geschrieben, dass ich zwei unschuldige Seelen ums
Leben bringen sollte!" und zeigte ihm die beiden Briefe, die der Böse verfälscht
hatte, und sprach weiter: "Ich habe getan, wie du befohlen hast", und wies ihm
die Wahrzeichen, Zunge und Augen. Da fing der König an noch viel bitterlicher zu weinen
über seine arme Frau und sein Söhnlein, dass es die alte Mutter erbarmte und sie zu ihm
sprach: "Gib dich zufrieden, sie lebt noch. Ich habe eine Hirschkuh heimlich
schlachten lassen und von dieser die Wahrzeichen genommen, deiner Frau aber habe ich ihr
Kind auf den Rücken gebunden, und sie geheissen, in die weite Welt zu gehen, und sie hat
versprechen müssen, nie wieder hierher zu kommen, weil du so zornig über sie
wärst."
Da sprach der König: "Ich will gehen, so weit der Himmel blau ist, und nicht
essen und nicht trinken, bis ich meine liebe Frau und mein Kind wiedergefunden habe, wenn
sie nicht in der Zeit umgekommen oder Hungers gestorben sind." Darauf zog der König
umher, an die sieben Jahre lang, und suchte sie in allen Steinklippen und Felsenhöhlen,
aber er fand sie nicht und dachte, sie wäre verschmachtet. Er ass nicht und trank nicht
während dieser ganzen Zeit, aber Gott erhielt ihn. Endlich kam er in einen grossen Wald
und fand darin das kleine Häuschen, daran das Schildchen war mit den Worten "Hier
wohnt [ein] jeder frei." Da kam die weisse Jungfrau heraus, nahm ihn bei der Hand,
führte ihn hinein und sprach: "Seid willkommen, Herr König", und fragte ihn,
wo er herkäme. Er antwortete: "Ich bin bald sieben Jahre umhergezogen und suche
meine Frau mit ihrem Kinde, ich kann sie aber nicht finden." Der Engel bot ihm Essen
und Trinken an, er nahm es aber nicht, und wollte nur ein wenig ruhen. Da legte er sich
schlafen, und deckte ein Tuch über sein Gesicht. Darauf ging der Engel in die Kammer, wo
die Königin mit ihrem Sohne sass, den sie gewöhnlich Schmerzenreich nannte, und sprach
zu ihr: "Geh heraus mitsamt deinem Kinde, dein Gemahl ist gekommen." Da ging sie
hin, wo er lag, und das Tuch fiel ihm vom Angesicht.
Da sprach sie: "Schmerzenreich, heb deinem Vater das Tuch auf und deckte ihm sein
Gesicht wieder zu." Das Kind hob es auf und deckte es wieder über sein Gesicht. Das
hörte der König im Schlummer und liess das Tuch noch einmal gerne fallen. Da ward das
Knäbchen ungeduldig und sagte: "Liebe Mutter, wie kann ich meinem Vater das Gesicht
zudecken, ich habe ja keinen Vater auf der Welt. Ich habe das Beten gelernt, unser Vater,
der du bist im Himmel; da hast du gesagt, mein Vater wär im Himmel und wäre der liebe
Gott: wie soll ich einen so wilden Mann kennen? Der ist mein Vater nicht." Wie der
König das hörte, richtete er sich auf und fragte, wer sie wäre. Da sagte sie: "Ich
bin deine Frau, und das ist dein Sohn Schmerzenreich." Und er sah ihre lebendigen
Hände und sprach: "Meine Frau hatte silberne Hände." Sie antwortete: "Die
natürlichen Hände hat mir der gnädige Gott wieder wachsen lassen"; und der Engel
ging in die Kammer, holte die silbernen Hände und zeigte sie ihm. Da sah er erst gewiss,
dass es seine liebe Frau und sein liebes Kind war, und küsste sie und war froh, und
sagte: "Ein schwerer Stein ist von meinem Herzen gefallen." Da speiste sie der
Engel Gottes noch einmal zusammen, und dann gingen sie nach Haus zu seiner alten Mutter.
Da war grosse Freude überall, und der König und die Königin hielten noch einmal
Hochzeit, und sie lebten vergnügt bis an ihr seliges Ende.
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