Der singende Knochen KHM 28 (1857)
Märchentyp AT: 780
Es war einmal in einem Lande grosse Klage über ein Wildschwein, das den Bauern die
Äcker umwühlte, das Vieh tötete und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriss.
Der König versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien würde, eine
grosse Belohnung; aber das Tier war so gross und stark, dass sich niemand in die Nähe des
Waldes wagte, worin es hauste. Endlich liess der König bekanntmachen, wer das Wildschwein
einfange oder töte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben.
Nun lebten zwei Brüder in dem Lande, Söhne eines armen Mannes, die meldeten sich und
wollten das Wagnis übernehmen. Der älteste, der listig und klug war, tat es aus Hochmut,
der jüngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der König sagte: "Damit
ihr desto sicherer das Tier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald
gehen." Da ging der älteste von Abend und der jüngste von Morgen hinein. Und als
der jüngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Männlein zu ihm, das hielt
einen schwarzen Spiess in der Hand und sprach: "Diesen Spiess gebe ich dir, weil dein
Herz unschuldig und gut ist; damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es
wird dir keinen Schaden zufügen." Er dankte dem Männlein, nahm den Spiess auf die
Schultern und ging ohne Furcht weiter.
Nicht lange, so erblickte er das Tier, das auf ihn losrannte, er hielt ihm aber den
Spiess entgegen, und in seiner blinden Wut rannte es so gewaltig hinein, dass ihm das Herz
entzweigeschnitten ward. Da nahm er das Ungetüm, auf die Schulter, ging heimwärts und
wollte es dem Könige bringen.
Als er auf der andern Seite des Waldes herauskam, stand da am Eingang ein Haus, wo die
Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und
hatte gedacht, das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten
Mut trinken.
Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so
liess ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu: "Komm doch
herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein." Der
jüngste, der nichts Arges dahinter vermutete, ging hinein und erzählte ihm von dem guten
Männlein, das ihm einen Spiess gegeben, womit er das Schwein getötet hätte. Der
älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da gingen sie zusammen fort.
Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, liess der
älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von
hinten einen Schlag, dass er tot hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann
das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben, er hätte es getötet; worauf er
die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wiederkommen
wollte, sagte er: "Das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben", und das
glaubte jedermann.
Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze Tat ans Licht
kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah
unten im Sande ein schneeweisses Knöchlein liegen und dachte, das gäbe ein gutes
Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein
Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fing das Knöchlein zu grosser
Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen:
"Ach, du liebes Hirtelein,
Du bläst auf meinem Knöchelein,
Mein Bruder hat mich erschlagen,
Unter der Brücke begraben,
Um das wilde Schwein,
Für des Königs Töchterlein."
"Was für ein wunderliches Hörnchen", sagte der Hirt, "das von selber
singt, das muss ich dem Herrn König bringen." Als er damit vor den König kam, fing
das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und liess
die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum
Vorschein. Der böse Bruder konnte die Tat nicht leugnen, ward in einen Sack genäht und
lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes
Grab zur Ruhe gelegt.
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