Die sieben Raben KHM 25 (1857)
Märchentyp AT: 451
Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, sosehr er sichs
auch wünschte; endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde, und
wies zur Welt kam, war es auch ein Mädchen. Die Freude war gross, aber das Kind war
schmächtig und klein, und sollte wegen seiner Schwachheit die Nottaufe haben.
Der Vater schickte einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen: die andern
sechs liefen mit, und weil jeder der erste beim Schöpfen sein wollte, so fiel ihnen der
Krug in den Brunnen. Da standen sie und wussten nicht, was sie tun sollten, und keiner
getraute sich heim. Als sie immer nicht zurückkamen, ward der Vater ungeduldig und
sprach: "Gewiss haben sies wieder über ein Spiel vergessen, die gottlosen
Jungen." Es ward ihm angst, das Mädchen musste ungetauft verscheiden, und im Ärger
rief er: "Ich wollte, dass die Jungen alle zu Raben würden."
Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über seinem Haupt in der
Luft, blickte in die Höhe und sah sieben kohlschwarze Raben auf- und davonfliegen. Die
Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den
Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich doch einigermassen durch ihr liebes
Töchterchen, das bald zu Kräften kam, und mit jedem Tage schöner ward. Es wusste lange
Zeit nicht einmal, dass es Geschwister gehabt hatte, denn die Eltern hüteten sich, ihrer
zu erwähnen, bis es eines Tages von ungefähr die Leute von sich sprechen hörte, das
Mädchen wäre wohl schön, aber doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben
Brüder. Da ward es ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es denn Brüder
gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären. Nun durften die Eltern das Geheimnis nicht
länger verschweigen, sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis und seine Geburt
nur der unschuldige Anlass gewesen. Allein das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen
daraus und glaubte, es müsste seine Geschwister wieder erlösen.
Es hatte nicht Ruhe und Rast, bis es sich heimlich aufmachte und in die weite Welt
ging, seine Brüder irgendwo aufzusparen und zu befreien, es möchte kosten, was es
wollte. Es nahm nichts mit sich als ein Ringlein von seinen Eltern zum Andenken, einen
Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst und ein Stühlchen für die
Müdigkeit.
Nun ging es immerzu, weit, weit bis an der Welt Ende. Da kam es zur Sonne, aber die war
zu heiss und fürchterlich, und frass die kleinen Kinder. Eilig lief es weg und lief hin
zu dem Mond, aber der war zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte,
sprach er "ich rieche Menschenfleisch."
Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen, die waren ihm freundlich und
gut, und jeder sass auf seinem besondern Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab
ihm ein Hinkelbeinchen und sprach: "Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du den
Glasberg nicht aufschliessen, und in dem Glasberg, da sind deine Brüder."
Das Mädchen nahm das Beinchen, wickelte es wohl in ein Tüchlein, und ging wieder
fort, so lange, bis es an den Glasberg kam. Das Tor war verschlossen und es wollte das
Beinchen hervorholen, aber wie es das Tüchlein aufmachte, so war es leer, und es hatte
das Geschenk der guten Sterne verloren. Was sollte es nun auf anfangen? Seine Brüder
wollte es erretten und hatte keinen Schlüssel zum Glasberg. Das gute Schwesterchen nahm
ein Messer, schnitt sich ein kleines Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss
glücklich auf. Als es eingegangen war, kam ihm ein Zwerglein entgegen, das sprach
"mein Kind, was suchst du?"
"Ich suche meine Brüder, die sieben Raben", antwortete es. Der Zwerg sprach
"die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst du hier so lang warten, bis sie
kommen, so tritt ein." Darauf trug das Zwerglein die Speise der Raben herein auf
sieben Tellerchen und in sieben Becherchen, und von jedem Tellerchen ass das Schwesterchen
ein Bröckchen, und aus jedem Becherchen trank es ein Schlückchen; in das letzte
Becherchen aber liess es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte.
Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sprach das Zwerglein
"jetzt kommen die Herren Raben heim geflogen." Da kamen sie, wollten essen und
trinken, und suchten ihre Tellerchen und Becherchen.
Da sprach einer nach dem andern: "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat
aus meinem Becherchen getrunken? Das ist eines Menschen Mund gewesen." Und wie der
siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an
und erkannte, dass es ein Ring von Vater und Mutter war, und sprach: "Gott gebe,
unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst."
Wie das Mädchen, das hinter der Türe stand und lauschte, den Wunsch hörte, so trat
es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. Und sie herzten
und küssten einander, und zogen fröhlich heim.
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