Das Rätsel KHM 22 (1857)
Märchentyp AT: 851
Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust, in der Welt herumzuziehen, und nahm
niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tages geriet er in einen grossen Wald, und als
der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wusste nicht, wo er die Nacht zubringen
sollte. Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher
kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war. Er redete es an und sprach:
"Liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen für die Nacht ein
Unterkommen finden?" "Ach ja", sagte das Mädchen mit trauriger Stimme,
"das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu; geht nicht hinein."
"Warum soll ich nicht?" fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach:
"Meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meints nicht gut mit den
Fremden." Da merkte er wohl, dass er zu dem Hause einer Hexe gekommen war, doch weil
es finster ward und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, so trat er ein.
Die Alte sass auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an.
"Guten Abend", schnarrte sie und tat ganz freundlich, "lasst euch nieder
und ruht euch aus." Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen Topf
etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und
nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke. Sie schliefen ruhig bis zum
frühen Morgen. Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu
Pferde sass, sprach die Alte "warte einen Augenblick, ich will euch erst einen
Abschiedstrank reichen." Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der
Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war allein noch zugegen, als die böse
Hexe mit dem Trank kam. "Das bring deinem Herrn", sagte sie, aber in dem
Augenblick sprang das Glas, und das Gift spritzte auf das Pferd, und war so heftig, dass
das Tier gleich tot hinstürzte. Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was
geschehen war, wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu
holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, sass schon ein Rabe darauf und frass davon.
"Wer weiss, ob wir heute noch etwas Besseres finden", sagte der Diener, tötete
den Raben und nahm ihn mit. Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber
nicht herauskommen.
Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem
Wirt den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube
geraten, und in der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und
berauben. Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch, und der Wirt und
die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie assen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die
das Fleisch des Raben gehackt war. Kaum aber hatten sie ein paar Bissen
hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn dem Raben hatte sich das Gift von
dem Pferdefleisch mitgeteilt. Es war nun niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des
Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie
öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn
aber sagte, sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon, und ritt mit seinem Diener
weiter. Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne,
aber übermütige Königstochter war, die hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel
vorlegte, das sie nicht erraten könnte, der sollte ihr Gemahl werden: erriete sie es
aber, so müsste er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu
besinnen, sie war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten
Zeit erriet. Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte
und, von ihrer grossen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen wollte. Da trat er vor
sie hin und gab ihr sein Rätsel auf: "Was ist das", sagte er, "einer
schlug keinen und schlug doch zwölfe." Sie wusste nicht, was das war, sie sann und
sann, aber sie brachte es nicht heraus: sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand
nicht darin: kurz, ihre Weisheit war zu Ende. Da sie sich nicht zu helfen wusste, befahl
sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte sie seine Träume
behorchen, und dachte, er rede vielleicht im Schlaf und verrate das Rätsel. Aber der
kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt, und als die Magd herankam, riss
er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruten hinaus. In
der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen, ob es
ihr mit Horchen besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte
sie mit Ruten hinaus. Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und legte
sich in sein Bett, da kam die Königstochter selbst, hatte einen nebelgrauen Mantel
umgetan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er schliefe und träume, so redete
sie ihn an und hoffte, er werde im Traume antworten, wie viele tun: aber er war wach und
verstand und hörte alles sehr wohl. Da fragte sie: "Einer schlug keinen, was ist
das?" Er antwortete: "Ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde frass
und davon starb." Weiter fragte sie: "Und schlug doch zwölfe, was ist
das?" "Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran
starben." Als sie das Rätsel wusste, wollte sie sich fortschleichen, aber er hielt
ihren Mantel fest, dass sie ihn zurücklassen musste. Am andern Morgen verkündigte die
Königstochter, sie habe das Rätsel erraten, und liess die zwölf Richter kommen und
löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat sich Gehör aus und sagte: "Sie ist in
der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht
erraten." Die Richter sprachen: "Bringt uns ein Wahrzeichen." Da wurden die
drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den nebelgrauen
erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie: "Lasst den
Mantel sticken mit Gold und Silber, so wirds Euer Hochzeitsmantel sein.
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