Hänsel und Gretel KHM 15 (1857)
Märchentyp AT: 327A
Vor einem grossen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei
Kindern; das Bübchen hiess Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beissen und
zu brechen, und einmal, als grosse Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche
Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bette Gedanken machte und sich vor
Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: "Was soll aus uns werden?
wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr
haben?"
"Weisst du was, Mann," antwortete die Frau, "wir wollen morgen in aller
Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: da machen wir ihnen
ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und
lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus und wir sind sie los."
"Nein, Frau," sagte der Mann, "das tue ich nicht; wie sollt ichs übers
Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen, die wilden Tiere würden bald kommen
und sie zerreissen." "O du Narr," sagte sie, "dann müssen wir alle
viere Hungers sterben, du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln," und liess
ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. "Aber die armen Kinder dauern mich doch,"
sagte der Mann.
Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht einschlafen können und hatten gehört,
was die Stiefmutter zum Vater gesagt hatte. Gretel weinte bittere Tränen und sprach zu
Hänsel: "Nun ists um uns geschehen."
"Still Gretel," sprach Hänsel, "gräme dich nicht, ich will uns schon
helfen." Und als die Alten eingeschlafen waren, stand er auf, zog sein Röcklein an,
machte die Untertüre auf und schlich sich hinaus. Da schien der Mond ganz helle, und die
weissen Kieselsteine, die vor dem Haus lagen, glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte
sich und steckte so viel in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten. Dann ging er
wieder zurück, sprach zu Gretel: "Sei getrost, liebes Schwesterchen, und schlaf nur
ruhig ein, Gott wird uns nicht verlassen," und legte sich wieder in sein Bett. Als
der Tag anbrach, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kam schon die Frau und weckte die
beiden Kinder: "Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz
holen." Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach: "Da habt ihr etwas
für den Mittag, aber essts nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts." Gretel nahm
das Brot unter die Schürze, weil Hänsel die Steine in der Tasche hatte. Danach machten
sie sich alle zusammen auf den Weg nach dem Wald. Als sie ein Weilchen gegangen waren,
stand Hänsel still und guckte nach dem Haus zurück und tat das wieder und immer wieder.
Der Vater sprach: "Hänsel, was guckst du da und bleibst zurück, hab acht und
vergiss deine Beine nicht."
"Ach, Vater," sagte Hänsel, "ich sehe nach meinem weissen Kätzchen,
das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen." Die Frau sprach: "Narr, das
ist dein Kätzchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein scheint."
Hänsel aber hatte nicht nach dem Kätzchen gesehen, sondern immer einen von den blanken
Kieselsteinen aus seiner Tasche auf den Weg geworfen. Als sie mitten in den Wald gekommen
waren, sprach der Vater: "Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen,
damit ihr nicht friert." Hänsel und Gretel tragen Reisig zusammen, einen kleinen
Berg hoch. Das Reisig ward angezündet, und als die Flamme recht hoch brannte, sagte die
Frau: "Nun legt euch ans Feuer, ihr Kinder, und ruht euch aus, wir gehen in den Wald
und hauen Holz. Wenn wir fertig sind, kommen wir wieder und holen euch ab."
Hänsel und Gretel sassen am Feuer, und als der Mittag kam, ass jedes ein Stücklein
Brot. Und weil sie die Schläge der Holzaxt hörten, so glaubten sie, ihr Vater wäre in
der Nähe. Es war aber nicht die Holzaxt, es war ein Ast, den er an einen dürren Baum
gebunden hatte, und den der Wind hin- und herschlug. Und als sie so lange gesessen hatten,
fielen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und sie schliefen fest ein.
Als sie endlich erwachten, war es schon finstere Nacht. Gretel fing an zu weinen und
sprach: "Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen!" Hänsel aber tröstete sie:
"Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon
finden." Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchen
an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neu geschlagene Batzen
und zeigten ihnen den Weg. Sie gingen die ganze Nacht hindurch und kamen bei anbrechendem
Tag wieder zu ihres Vaters Haus. Sie klopften an die Tür, und als die Frau aufmachte und
sah, dass es Hänsel und Gretel war, sprach sie: "Ihr bösen Kinder, was habt ihr so
lange im Walde geschlafen, wir haben geglaubt, ihr wolltet gar nicht wiederkommen."
Der Vater aber freute sich, denn es war ihm zu Herzen gegangen, dass er sie so allein
zurückgelassen hatte.
Nicht lange danach war wieder Not in allen Ecken, und die Kinder hörten, wie die
Mutter nachts im Bette zu dem Vater sprach: "Alles ist wieder aufgezehrt, wir haben
noch einen halben Laib Brot, hernach hat das Lied ein Ende. Die Kinder müssen fort, wir
wollen sie tiefer in den Wald hineinfahren, damit sie den Weg nicht wieder herausfinden;
es ist sonst keine Rettung für uns." Dem Mann fiels schwer aufs Herz und er
dachte: "Es wäre besser, dass du den letzten Bissen mit deinen Kindern
teiltest." Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte, schalt ihn und machte ihm
Vorwürfe. Wer A sagt, muss auch B sagen, und weil er das erstemal nachgegeben hatte, so
musste er es auch zum zweitenmal.
Die Kinder waren aber noch wach gewesen und hatten das Gespräch mit angehört. Als die
Alten schliefen, stand Hänsel wieder auf, wollte hinaus und Kieselsteine auflesen wie das
vorigemal, aber die Frau hatte die Tür verschlossen, und Hänsel konnte nicht heraus.
Aber er tröstete sein Schwesterchen und sprach: "Weine nicht, Gretel, und schlaf nur
ruhig, der liebe Gott wird uns schon helfen." Am frühen Morgen kam die Frau und
holte die Kinder aus dem Bette. Sie erhielten ihr Stückchen Brot, das war aber noch
kleiner als das vorigemal. Auf dem Wege nach dem Wald bröckelte es Hänsel in der Tasche,
stand oft still und warf ein Bröcklein auf die Erde. "Hänsel was stehst du und
guckst dich um," sagte der Vater, "geh deiner Wege."
"Ich sehe nach meinem Täubchen, das sitzt auf dem Dache und will mir Ade
sagen," antwortete Hänsel. "Narr," sagte die Frau, "das ist dein
Täubchen nicht, das ist die Morgensonne, die auf den Schornstein oben scheint."
Hänsel aber warf nach und nach alle Bröcklein auf den Weg. Die Frau führte die Kinder
noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein
grosses Feuer angemacht, und die Mutter sagte: "Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder, und
wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen: wir gehen in den Wald und hauen Holz,
und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab."
Als es Mittag war, teilte Gretel ihr Brot mit Hänsel, der sein Stück auf den Weg
gestreut hatte. Dann schliefen sie ein, und der Abend verging, aber niemand kam zu den
armen Kindern. Sie erwachten erst in der finsteren Nacht, und Hänsel tröstete sein
Schwesterchen und sagte: "Wart nur, Gretel, bis der Mond aufgeht, dann werden wir die
Brotbröcklein sehen, die ich ausgestreut habe, die zeigen uns den Weg nach Haus."
Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein mehr, denn die
viel tausend Vögel, die im Walde und im Felde umherfliegen, die hatten sie weggepickt.
Hänsel sagte zu Gretel: "Wir werden den Weg schon finden," aber sie fanden ihn
nicht. Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen
aus dem Wald nicht heraus, und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar
Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht
mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.
Nun wars schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten.
Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald, und wenn nicht
bald Hilfe kam, so mussten sie verschmachten.
Als es Mittag war, sahen sie ein schönes schneeweisses Vöglein auf einem Ast sitzen,
das sang so schön, dass sie stehen blieben und ihm zuhörten. Und als es fertig war,
schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und sie gingen ihm nach, bis sie zu einem
Häuschen gelangten, auf dessen Dach es sich setzte, und als sie ganz nah herankamen, so
sahen sie, dass das Häuslein aus Brot gebaut war und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster
waren von hellem Zucker. "Da wollen wir uns dran machen," sprach Hänsel,
"und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück vom Dach essen, Gretel, du
kannst vom Fenster essen, das schmeckt süss." Hänsel reichte in die Höhe und brach
sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an
die Scheiben und knusperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube heraus:
"Knusper, knusper, kneischen, Wer knuspert an meinem Häuschen?" Die Kinder
antworteten: "Der Wind, der Wind das himmlische Kind," und assen weiter, ohne
sich irre machen zu lassen. Hänsel, dem das Dach sehr gut schmeckte, riss sich ein
grosses Stück davon herunter, und Gretel stiess eine ganze runde Fensterscheibe heraus,
setzte sich nieder und tat sich wohl damit.
Da ging auf einmal die Türe auf, und eine steinalte Frau, die sich auf eine Krücke
stützte, kam herausgeschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so gewaltig, dass sie
fallen liessen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopfe und
sprach: "Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher gebracht? kommt nur herein und
bleibt bei mir, es geschieht euch kein Leid." Sie fasste beide an der Hand und
führte sie in ihr Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannekuchen mit
Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein weiss gedeckt, und
Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten, sie wären im Himmel.
Die Alte hatte sich nur so freundlich angestellt, sie war aber eine böse Hexe, die den
Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein bloss gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn
eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es tot, kochte es und ass es, und das war ihr ein
Festtag. Die Hexen haben rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine
feine Witterung, wie die Tiere, und merkens, wenn Menschen herankommen. Als Hänsel
und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und sprach höhnisch: "Die habe
ich, die sollen mir nicht wieder entwischen."
Frühmorgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie schon auf, und als sie beide so
lieblich ruhen sah, mit den vollen roten Backen, so murmelte sie vor sich hin: "Das
wird ein guter Bissen werden." Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug
ihn in einen kleinen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein; er mochte schreien,
wie er wollte, es half ihm nichts. Dann ging sie zu Gretel, rüttelte sie wach und rief:
"Steh auf, Faulenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas Gutes, der sitzt
draussen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn essen."
Gretel fing an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich, sie musste tun, was die
böse Hexe verlangte. Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel
bekam nichts als Krebsschalen.
Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen und rief: "Hänsel, streck deine
Finger heraus, damit ich fühle, ob du bald fett bist." Hänsel streckte ihr aber ein
Knöchlein heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und
meinte, es wären Hänsels Finger, und verwunderte sich, dass er gar nicht fett werden
wollte.
Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager blieb, da übernahm sie die
Ungeduld, und sie wollte nicht länger warten. "Heda, Gretel", rief sie dem
Mädchen zu, "sei flink und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen
will ich ihn schlachten und kochen." Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es
das Wasser tragen musste, und wie flossen ihm die Tränen über die Backen herunter!
"Lieber Gott, hilf uns doch", rief sie aus, "hätten uns nur die wilden
Tiere im Wald gefressen, so wären wir doch zusammen gestorben."
"Spar nur dein Geplärre", sagte die Alte, "es hilft dir alles
nichts." Frühmorgens musste Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen und
Feuer anzünden. "Erst wollen wir backen", sagte die Alte, "ich habe den
Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet. Sie stiess das arme Gretel hinaus zu dem
Backofen, aus dem die Feuerflammen schon herausschlugen.
"Kriech hinein", sagte die Hexe, "und sieh zu, ob recht eingeheizt ist,
damit wir das Brot hineinschieben können." Und wenn Gretel darin war, wollte sie den
Ofen zumachen, und Gretel sollte darin braten, und dann wollte sies auch aufessen.
Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte, und sprach: "Ich weiss nicht, wie
ichs machen soll; wie komm ich da hinein?"
"Dumme Gans", sagte die Alte, "die Öffnung ist gross genug, siehst du
wohl, ich könnte selbst hinein", krabbelte heran und steckte den Kopf in den
Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoss, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür
zu und schob den Riegel vor. Hu! da fing sie an zu heulen, ganz grauselig; aber Gretel
lief fort, und die gottlose Hexe musste elendiglich verbrennen.
Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein Ställchen und rief:
"Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe ist tot." Da sprang Hänsel heraus,
wie ein Vogel aus dem Käfig, wenn ihm die Türe aufgemacht wird. Wie haben sie sich
gefreut, sind sich um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküsst! Und
weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so gingen sie in das Haus der Hexe
hinein, da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen. "Die sind noch
besser als Kieselsteine", sagte Hänsel und steckte in seine, Taschen, was hinein
wollte, und Gretel sagte: "Ich will auch etwas mit nach Hause bringen", und
füllte sich sein Schürzchen voll. "Aber jetzt wollen wir fort", sagte Hänsel,
"damit wir aus dem Hexenwald herauskommen." Als sie aber ein paar Stunden
gegangen waren, gelangten sie an ein grosses Wasser. "Wir können nicht
hinüber", sprach Hänsel, "ich seh keinen Steg und keine Brücke. "
"Hier fährt auch kein Schiffchen", antwortete Gretel, "aber da schwimmt
eine weisse Ente, wenn ich die bitte, so hilft sie uns hinüber." Da rief sie:
"Entchen, Entchen, da steht Gretel und Hänsel. Kein Steg und keine Brücke, nimm uns
auf deinen weissen Rücken." Das Entchen kam auch heran, und Hänsel setzte sich auf
und bat sein Schwesterchen, sich zu ihm zu setzen. "Nein", antwortete Gretel, es
wird dem Entchen zu schwer, es soll uns nacheinander hinüber bringen." Das tat das
gute Tierchen, und als sie glücklich drüben waren und ein Weilchen fortgingen, da kam
ihnen der Wald immer bekannter und immer bekannter vor, und endlich erblickten sie von
weitem ihres Vaters Haus. Da fingen sie an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und
fielen ihrem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, seitdem er die
Kinder im Walde gelassen hatte, die Frau aber war gestorben. Gretel schüttete sein
Schürzchen aus, dass die Perlen und Edelsteine in der Stube herumsprangen, und Hänsel
warf eine Handvoll nach der andern aus seiner Tasche dazu. Da hatten alle Sorgen ein Ende,
und sie lebten in lauter Freude zusammen. Mein Märchen ist aus, dort läuft eine Maus,
wer sie fängt, darf sich eine grosse, grosse Pelzkappe daraus machen.
top