Brüderchen und Schwesterchen KHM 11 (1857)
Märchentyp AT: 450
Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: "Seit die Mutter tot
ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn
wir zu ihr kommen, stösst sie uns mit den Füssen fort. Die harten Brotkrusten, die
übrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Hündlein unter dem Tisch gehts besser:
dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Dass Gott erbarm, wenn das unsere
Mutter wüsste! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen." Sie gingen den
ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen:
"Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!" Abends kamen sie in einen grossen
Wald und waren so müde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, dass sie sich in einen
hohlen Baum setzten und einschliefen.
Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien
heiss in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen: "Schwesterchen, mich dürstet,
wenn ich ein Brünnlein wüsste, ich ging und tränk einmal; ich mein, ich hört eins
rauschen."
Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten das Brünnlein
suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden
Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen,
und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so
glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das
Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger,
wer aus mir trinkt, wird ein Tiger." Da rief das Schwesterchen: "Ich bitte dich,
Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreissest mich." Das
Brüderchen trank nicht, ob es gleich so grossen Durst hatte, und sprach: "Ich will
warten bis zur nächsten Quelle." Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das
Schwesterchen, wie auch dieses sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf, wer aus
mir trinkt, wird ein Wolf." Da rief das Schwesterchen: "Brüderchen, ich bitte
dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich." Das Brüderchen trank
nicht, und sprach: "Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann
muss ich trinken, du magst sagen, was du willst: mein Durst ist gar zu gross." Und
als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach:
"Wer aus mir trinkt, wird ein Reh, wer aus mir trinkt, wird ein Reh." Das
Schwesterchen sprach: "Ach Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du
ein Reh und läufst mir fort."
Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein niedergekniet, hinabgebeugt und
von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag
es da als ein Rehkälbchen. Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte
Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und sass so traurig neben ihm. Da sprach das
Mädchen endlich: "Sei still, liebes Rehchen, ich will dich nimmermehr
verlassen." Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen um den
Hals, und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und
führte es weiter, und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lange, lange
gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein,
und weil es leer war, dachte es: "Hier können wir bleiben und wohnen." Da
suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus
und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras
mit, das frass es ihm aus der Hand, war vergnügt und spielte vor ihm herum.
Abends, wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf
auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und
hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben
gewesen. Das dauerte eine Zeitlang, dass sie so allein in der Wildnis waren.
Es trug sich aber zu, dass der König des Landes eine grosse Jagd in dem Wald hielt. Da
schallte das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger durch die
Bäume, und das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabei gewesen. "Ach,"
sprach es zum Schwesterlein, "lass mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger
mehr aushalten," und bat so lange, bis es einwilligte. "Aber," sprach es zu
ihm, "komm mir ja abends wieder, vor den wilden Jägern schliess ich mein Türlein;
und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: Mein Schwesterlein, lass mich herein; und
wenn du nicht so sprichst, so schliess ich mein Türlein nicht auf."
Nun sprang das Rehchen hinaus, und war ihm so wohl und war so lustig in freier Luft.
Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten
es nicht einholen, und wenn sie meinten, sie hätten es gewiss, da sprang es über das
Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte
und sprach "mein Schwesterlein, lass mich herein." Da ward ihm die kleine Tür
aufgetan, es sprang hinein und ruhete sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus.
Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein wieder das Hüfthorn
hörte und das Hoho! der Jäger, da hatte es keine Ruhe und sprach: "Schwesterlein,
mach mir auf, ich muss hinaus." Das Schwesterchen öffnete ihm die Türe und sprach
"aber zu Abend musst du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen."
Als der König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband wieder sahen,
jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und behend. Das währte den ganzen
Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig
am Fuss, so dass es hinken musste und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jäger nach bis
zu dem Häuschen und hörte, wie es rief: "Mein Schwesterlein, lass mich
herein," und sah, dass die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward.
Der Jäger behielt das alles wohl im Sinn, ging zum König und erzählte ihm, was er
gesehen und gehört hatte. Da sprach der König: "Morgen soll noch einmal gejagt
werden." Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, dass sein Rehkälbchen
verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf und sprach: "Geh auf dein
Lager, lieb Rehchen, dass du wieder heil wirst." Die Wunde aber war so gering, dass
das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es die Jagdlust wieder draussen
hörte, sprach es: "Ich kann es nicht aushalten, ich muss dabei sein; so bald soll
mich keiner kriegen." Das Schwesterchen weinte und sprach: "Nun werden sie dich
töten, und ich bin hier allein im Wald und bin verlassen von aller Welt: ich lass dich
nicht hinaus."
"So sterb ich dir hier vor Betrübnis," antwortete das Rehchen, "wenn
ich das Hüfthorn höre, so mein ich, ich müsst aus den Schuhen springen!" Da konnte
das Schwesterchen nicht anders und schloss ihm mit schwerem Herzen die Tür auf, und das
Rehchen sprang gesund und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu
seinen Jägern: "Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber dass ihm
keiner etwas zuleide tut."
Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger: "Nun komm und
zeige mir das Waldhäuschen." Und als er vor dem Türlein war, klopfte er an und
rief: "Lieb Schwesterlein, lass mich herein." Da ging die Tür auf, und der
König trat herein, und da stand ein Mädchen, das war so schön, wie er noch keins
gesehen hatte. Das Mädchen erschrak, als es sah, dass nicht das Rehlein, sondern ein Mann
hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König sah es freundlich
an, reichte ihm die Hand und sprach: "Willst du mit mir gehen auf mein Schloss und
meine liebe Frau sein?"
"Ach ja," antwortete das Mädchen, "aber das Rehchen muss auch mit, das
verlass ich nicht." Sprach der König "es soll bei dir bleiben, solange du
lebst, und soll ihm an nichts fehlen." Indem kam es hereingesprungen, da band es das
Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging mit ihm aus
dem Waldhäuschen fort.
Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloss, wo
die Hochzeit mit grosser Pracht gefeiert wurde, und war es nun die Frau Königin, und
lebten sie lange Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein ward gehegt und gepflegt und sprang
in dem Schlossgarten herum. Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die
Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders, als Schwesterchen wäre von den wilden
Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern
totgeschossen. Als sie nun hörte, dass sie so glücklich waren und es ihnen wohl ging, da
wurden Neid und Missgunst in ihrem Herzen rege und liessen ihr keine Ruhe, und sie hatte
keinen andern Gedanken, als wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte.
Ihre rechte Tochter, die hässlich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte, die machte
ihr Vorwürfe und sprach: "Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir
gebührt." "Sei nur still," sagte die Alte und sprach sie zufrieden,
"wenns Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein."
Als nun die Zeit herangerückt war, und die Königin ein schönes Knäblein zur Welt
gebracht hatte, und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der
Kammerfrau an, trat in die Stube, wo die Königin lag, und sprach zu der Kranken:
"Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohltun und frische Kräfte geben:
geschwind, eh es kalt wird." Ihre Tochter war auch bei der Hand, sie trugen die
schwache Königin in die Badstube und legten sie in die Wanne; dann schlossen sie die Tür
ab und liefen davon.
In der Badstube aber hatten sie ein rechtes Höllenfeuer angemacht, dass die schöne
junge Königin bald ersticken musste. Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter,
setzte ihr eine Haube auf, und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab ihr auch
die Gestalt und das Ansehen der Königin, nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht
wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte, musste sie sich auf die Seite legen,
wo sie kein Auge hatte.
Am Abend, als er heimkam und hörte, dass ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich
herzlich, und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief
die Alte geschwind: "Beileibe, lasst die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht
ins Licht sehen und muss Ruhe haben." Der König ging zurück und wusste nicht, dass
eine falsche Königin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der
Kinderstube neben der Wiege sass und allein noch wachte, wie die Türe aufging, und die
rechte Königin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab
ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kisschen, legte es wieder hinein und deckte
es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergass aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo
es lag, und streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder
zur Türe hinaus, und die Kinderfrau fragte am anderen Morgen die Wächter, ob jemand
während der Nacht ins Schloss gegangen wäre, aber sie antworteten: "Nein, wir haben
niemand gesehen."
So kam sie viel Nächte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie
immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit
verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:
"Was macht mein Kind? was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr."
Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum
König und erzählte ihm alles. Sprach der König: "Ach Gott, was ist das! Ich will
in der nächsten Nacht bei dem Kinde wachen." Abends ging er in die Kinderstube, aber
um Mitternacht erschien die Königin wieder und sprach:
"Was macht mein Kind, was macht mein Reh?
Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr."
Und pflegte dann des Kindes, wie sie gewöhnlich tat, ehe sie verschwand. Der König
getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in der folgenden Nacht. Sie sprach
abermals:
"Was macht mein Kind, was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr."
Da konnte sich der König recht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: "Du
kannst niemand anders sein als meine liebe Frau."
Da antwortete sie: "Ja, ich bin deine liebe Frau," und hatte in dem
Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund. Darauf
erzählte sie dem König den Frevel, den die böse Hexe und ihre Tochter an ihr verübt
hatten. Der König liess beide vor Gericht führen, und es ward ihnen das Urteil
gesprochen.
Die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber
ward ins Feuer gelegt und musste jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt
war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder;
Schwesterchen und Brüderchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.
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