Die zwölf Brüder KHM 9 (1857)
Märchentyp AT: 451
Es war einmal ein König und eine Königin, die lebten in Frieden miteinander und
hatten zwölf Kinder, das waren aber lauter Buben. Nun sprach der König zu seiner Frau:
"Wenn das dreizehnte Kind, was du zur Welt bringst, ein Mädchen ist, so sollen die
zwölf Buben sterben, damit sein Reichtum gross wird und das Königreich ihm allein
zufällt." Er liess auch zwölf Särge machen, die waren schon mit Hobelspänen
gefüllt, und in jedem lag das Totenkisschen, und liess sie in eine verschlossene Stube
bringen, dann gab er der Königin den Schlüssel und gebot ihr, niemand etwas davon zu
sagen. Die Mutter aber sass nun den ganzen Tag und trauerte, so dass der kleinste Sohn,
der immer bei ihr war, und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach:
"Liebe Mutter, warum bist du so traurig?"
"Liebstes Kind," antwortete sie, "ich darf dirs nicht sagen." Er
liess ihr aber keine Ruhe, bis sie ging und die Stube aufschloss, und ihm die zwölf mit
Hobelspänen schon gefällten Totenladen zeigte. Darauf sprach sie: "Mein liebster
Benjamin, diese Särge hat dein Vater für dich und deine elf Brüder machen lassen, denn
wenn ich ein Mädchen zur Welt bringe, so sollt ihr allesamt getötet und darin begraben
werden."
Und als sie weinte, während sie, das sprach, so tröstete sie der Sohn und sagte:
"Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns schon helfen und wollen fortgehen."
Sie aber sprach: "Geh mit deinen elf Brüdern hinaus in den Wald, und einer setze
sich immer auf den höchsten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schaue nach dem
Turm hier im Schloss. Gebär ich ein Söhnlein, so will ich eine weisse Fahne aufstecken,
und dann dürft ihr wiederkommen; gebär ich ein Töchterlein, so will ich eine rote Fahne
aufstecken, und dann flieht fort, so schnell ihr könnt, und der liebe Gott behüte euch.
Alle Nacht will ich aufstehen und für euch beten, im Winter, dass ihr an einem Feuer euch
wärmen könnt, im Sommer, dass ihr nicht in der Hitze schmachtet. " Nachdem sie also
ihre Söhne gesegnet hatte, gingen sie hinaus in den Wald. Einer hielt um den andern
Wache, sass auf der höchsten Eiche und schaute nach dem Turm.
Als elf Tage herum waren und die Reihe an Benjamin kam, da sah er, wie eine Fahne
aufgesteckt wurde; es war aber nicht die weisse, sondern die rote Blutfahne, die
verkündete, dass sie alle sterben sollten. Wie die Brüder das hörten, wurden sie zornig
und sprachen: "Sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden! Wir schwören,
dass wir uns rächen wollen: wo wir ein Mädchen finden, soll sein rotes Blut
fliessen."
Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mittendrein, wo er am dunkelsten war,
fanden sie ein kleines, verwünschtes Häuschen, das leer stand. Da sprachen sie:
"Hier wollen wir wohnen, und du, Benjamin, du bist der jüngste und schwächste, du
sollst daheim bleiben und haushalten, wir andern wollen ausgehen und Essen holen."
Nun zogen sie in den Wald und schossen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen, und was
zu essen stand; das brachten sie dem Benjamin, der musste es ihnen zurecht machen, damit
sie ihren Hunger stillen konnten. In dem Häuschen lebten sie zehn Jahre zusammen, und die
Zeit ward ihnen nicht lang. Das Töchterchen, das ihre Mutter, die Königin, geboren
hatte, war nun herangewachsen, war gut von Herzen und schön von Angesicht und hatte einen
goldenen Stern auf der Stirne.
Einmal, als grosse Wäsche war, sah es darunter zwölf Mannshemden und fragte seine
Mutter: "Wem gehören diese zwölf Hemden, für den Vater sind sie doch viel zu
klein?"
Da antwortete sie mit schwerem Herzen: "Liebes Kind, die gehören deinen zwölf
Brüdern." Sprach das Mädchen: "Wo sind meine zwölf Brüder, ich habe noch
niemals von ihnen gehört." Sie antwortete: "Das weiss Gott, wo sie sind: sie
irren in der Welt herum."
Da nahm sie das Mädchen und schloss ihm das Zimmer auf, und zeigte ihm die zwölf
Särge mit den Hobelspänen und den Totenkisschen. "Diese Särge," sprach sie,
"waren für deine Brüder bestimmt, aber sie sind heimlich fortgegangen, eh du
geboren warst," und erzählte ihm, wie sich alles zugetragen hatte. Da sagte das
Mädchen: "Liebe Mutter, weine nicht, ich will gehen und meine Brüder suchen."
Nun nahm es die zwölf Hemden und ging fort und geradezu in den grossen Wald hinein. Es
ging den ganzen Tag, und am Abend kam es zu dem verwünschten Häuschen. Da trat es hinein
und fand einen jungen Knaben, der fragte: "Wo kommst du her und wo willst du
hin?" und erstaunte, dass sie so schön war, königliche Kleider trug und einen Stern
auf der Stirne hatte. Da antwortete sie: "Ich bin eine Königstochter und suche meine
zwölf Brüder und will gehen, so weit der Himmel blau ist, bis ich sie finde." Sie
zeigte ihm auch die zwölf Hemden, die ihnen gehörten. Da sah Benjamin, dass es seine
Schwester war, und sprach: "Ich bin Benjamin, dein jüngster Bruder." Und sie
fing an zu weinen vor Freude, und Benjamin auch, und sie küssten und herzten einander vor
grosser Liebe. Hernach sprach er: "Liebe Schwester, es ist noch ein Vorbehalt da, wir
hatten verabredet, dass ein jedes Mädchen, das uns begegnete, sterben sollte, weil wir um
ein Mädchen unser Königreich verlassen mussten." Da sagte sie: "Ich will gerne
sterben, wenn ich damit meine zwölf Brüder erlösen kann."
"Nein," antwortete er, "du sollst nicht sterben, setze dich unter diese
Bütte, bis die elf Brüder kommen, dann will ich schon einig mit ihnen werden." Also
tat sie; und wie es Nacht ward, kamen die andern von der Jagd, und die Mahlzeit war
bereit. Und als sie am Tische sassen und assen, fragten sie: "Was gibts Neues?"
Sprach Benjamin: "Wisst ihr nichts?" "Nein," antworteten sie. Sprach
er weiter: "Ihr seid im Walde gewesen, und ich bin daheim geblieben, und weiss doch
mehr als ihr." "So erzähle uns," riefen sie. Antwortete er:
"Versprecht ihr mir auch, dass das erste Mädchen, das uns begegnet, nicht soll
getötet werden?" "Ja," riefen alle, "das soll Gnade haben, erzähl
uns nur."
Da sprach er: "Unsere Schwester ist da," und hub die Bütte auf, und die
Königstochter kam hervor in ihren königlichen Kleidern mit dem goldenen Stern auf der
Stirne, und war so schön, zart und fein. Da freueten sie sich alle, fielen ihr um den
Hals und küssten sie und hatten sie vom Herzen lieb. Nun blieb sie bei Benjamin zu Haus
und half ihm in der Arbeit. Die elfe zogen in den Wald, fingen Gewild, Rehe, Vögel und
Täuberchen, damit sie zu essen hatten, und die Schwester und Benjamin sorgten, dass es
zubereitet wurde. Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüs, und stellte
die Töpfe ans Feuer, also dass die Mahlzeit immer fertig war, wenn die elfe kamen. Sie
hielt auch sonst Ordnung im Häuschen, und deckte die Bettlein hübsch weiss und rein, und
die Brüder waren immer zufrieden und lebten in grosser Einigkeit mit ihr.
Auf eine Zeit hatten die beiden daheim eine schöne Kost zurechtgemacht, und wie sie
nun alle beisammen waren, setzten sie sich, assen und tranken und waren voller Freude. Es
war aber ein kleines Gärtchen an dem verwünschten Häuschen, darin standen zwölf
Lilienblumen, die man auch Studenten heisst; nun wollte sie ihren Brüdern ein Vergnügen
machen, brach die zwölf Blumen ab und dachte jedem aufs Essen eine zu schenken. Wie sie
aber die Blumen abgebrochen hatte, in demselben Augenblick waren die zwölf Brüder in
zwölf Raben verwandelt und flogen über den Wald hin fort, und das Haus mit dem Garten
war auch verschwunden.
Da war nun das arme Mädchen allein in dem wilden Wald, und wie es sich umsah, so stand
eine alte Frau neben ihm, die sprach: "Mein Kind, was hat du angefangen? Warum hast
du die zwölf weissen Blumen nicht stehen lassen? Das waren deine Brüder, die sind nun
auf immer in Raben verwandelt." Das Mädchen sprach weinend "ist denn kein
Mittel, sie zu erlösen?"
"Nein," sagte die Alte "es ist keins auf der ganzen Welt als eins, das
ist aber so schwer, dass du sie damit nicht befreien wirst, denn du musst sieben Jahre
stumm sein, darfst nicht sprechen und nicht lachen, und sprichst du ein einziges Wort, und
es fehlt nur eine Stunde an den sieben Jahren, so ist alles umsonst, und deine Brüder
werden von dem einen Wort getötet."
Da sprach das Mädchen in seinem Herzen: "Ich weiss gewiss, dass ich meine Brüder
erlöse," und ging und suchte einen hohen Baum, setzte sich darauf und spann, und
sprach nicht und lachte nicht.
Nun trugs sich zu, dass ein König in dem Walde jagte, der hatte einen grossen
Windhund, der lief zu dem Baum, wo das Mädchen darauf sass, sprang herum, schrie und
bellte hinauf. Da kam der König herbei und sah die schöne Königstochter mit dem
goldenen Stern auf der Stirne, und war so entzückt über ihre Schönheit, dass es ihr
zurief, ob sie seine Gemahlin werden wollte. Sie gab keine Antwort, nickte aber ein wenig
mit dem Kopf. Da stieg er selbst auf den Baum, trug sie herab, setzte sie auf sein Pferd
und führte sie heim.
Da ward die Hochzeit mit grosser Pracht und Freude gefeiert; aber die Braut sprach
nicht und lachte nicht. Als sie ein paar Jahre miteinander vergnügt gelebt hatten, fing
die Mutter des Königs, die eine böse Frau war, an, die junge Königin zu verleumden und
sprach zum König: "Es ist ein gemeines Bettelmädchen, das du dir mitgebracht hast,
wer weiss, was für gottlose Streiche sie heimlich treibt. Wenn sie stumm ist und nicht
sprechen kann, so könnte sie doch einmal lachen, aber wer nicht lacht, der hat ein böses
Gewissen." Der König wollte zuerst nicht daran glauben, aber die Alte trieb es so
lange und beschuldigte sie so viel böser Dinge, dass der König sich endlich überreden
liess und sie zum Tod verurteilte.
Nun ward im Hof ein grosses Feuer angezündet, darin sollte sie verbrannt werden; und
der König stand oben am Fenster und sah mit weinenden Augen zu, weil er sie noch immer so
lieb hatte. Und als sie schon an den Pfahl festgebunden war, und das Feuer an ihren
Kleidern mit roten Zungen leckte, da war eben der letzte Augenblick von den sieben Jahren
verflossen. Da liess sich in der Luft ein Geschwirr hören, und zwölf Raben kamen
hergezogen und senkten sich nieder; und wie sie die Erde berührten, waren es ihre zwölf
Brüder, die sie erlöst hatte. Sie rissen das Feuer auseinander, löschten die Flammen,
machten ihre liebe Schwester frei, und küssten und herzten sie. Nun aber, da sie ihren
Mund auftun und reden durfte, erzählte sie dem Könige, warum sie stumm gewesen wäre und
niemals gelacht hätte. Der König freute sich, als er hörte, dass sie unschuldig war,
und sie lebten nun alle zusammen in Einigkeit bis an ihren Tod. Die böse Stiefmutter ward
vor Gericht gestellt und in ein Fass gesteckt, das mit siedendem Öl und giftigen
Schlangen angefüllt war, und starb eines bösen Todes.
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