Marienkind KHM 3 (1857)
Märchentyp AT: 710
Vor einem grossen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte
nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren so arm, dass sie
nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wussten, was sie ihm sollten zu essen
geben.
Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an
seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne grosse Frau vor
ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm:
"Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und
dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es
sorgen." Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau
Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es ass Zuckerbrot
und trank süsse Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit
ihm.
Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal die Jungfrau
Maria zu sich und sprach: "Liebes Kind, ich habe eine grosse Reise vor, da nimm die
Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs in Verwahrung: zwölf davon darfst du
aufschliessen und die Herrlichkeiten darin betrachten, aber die dreizehnte wozu dieser
kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hüte dich, dass du sie nicht
aufschliessest, sonst wirst du unglücklich."
Das Mädchen versprach, gehorsam zu sein, und als nun die Jungfrau Maria
weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmelreichs: jeden Tag schloss es eine
auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber sass ein Apostel, und war von grossem
Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit, und die Englein,
die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm. Nun war die verbotene Tür allein noch
übrig, da empfand es eine grosse Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und sprach
zu den Englein: "Ganz aufmachen will ich sie nicht und will auch nicht hineingehen,
aber ich will sie aufschliessen, damit wir ein wenig durch den Ritz sehen."
"Ach nein," sagten die Englein, "das wäre Sünde: die
Jungfrau Maria hats verboten, und es könnte leicht dein Unglück werden." Da
schwieg es still, aber die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte
und pickte ordentlich daran und liess ihm keine Ruhe. Und als die Englein einmal alle
hinausgegangen waren, dachte es: "Nun bin ich ganz allein und könnte hineingucken,
es weiss es ja niemand, wenn ichs tue."
Es suchte den Schlüssel heraus, und als es ihn in der Hand hielt, steckte
es ihn auch in das Schloss, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da
sprang die Türe auf, und es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Es blieb
ein Weilchen stehen und betrachtete alle; mit Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem
Finger an den Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es eine gewaltige
Angst, schlug die Türe heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder
weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte
nicht ruhig werden: auch das Gold blieb an dem Finger und ging nicht ab, es mochte waschen
und reiben, soviel es wollte. Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer Reise
zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm die Himmelsschlüssel wieder ab.
Als es den Bund hinreichte, blickte ihm die Jungfrau in die Augen und sprach:" Hast
du auch nicht die dreizehnte Tür geöffnet?"
"Nein," antwortete es. Da legte sie ihre Hand auf sein Herz,
fühlte, wie es klopfte und klopfte, und merkte wohl, dass es ihr Gebot übertreten und
die Türe aufgeschlossen hatte. Da sprach sie noch einmal: "Hast du es gewiss nicht
getan?" "Nein," sagte das Mädchen zum zweitenmal. Da erblickte sie den
Finger, der von der Berührung des himmlischen Feuers golden geworden war, sah wohl, dass
es gesündigt hatte, und sprach zum drittenmal: "Hast du es nicht getan?"
"Nein," sagte das Mädchen zum drittenmal. Da sprach die
Jungfrau Maria: "Du hast mir nicht gehorcht, und hast noch dazu gelogen, du bist
nicht mehr würdig, im Himmel zu sein." Da versank das Mädchen in einen tiefen
Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis. Es wollte
rufen, aber es konnte keinen Laut hervorbringen. Es sprang auf und wollte fortlaufen, aber
wo es sich hinwendete, immer ward es von dichten Dornhecken zurückgehalten, die es nicht
durchbrechen konnte.
In der Einöde, in welche es eingeschlossen war, stand ein alter hohler
Baum, das musste seine Wohnung sein. Da kroch es hinein, wenn die Nacht kam, und schlief
darin, und wenn es stürmte und regnete, fand es darin Schutz: aber es war ein
jämmerliches Leben, und wenn es daran dachte, wie es im Himmel so schön gewesen war, und
die Engel mit ihm gespielt hatten, so weinte es bitterlich. Wurzeln und Waldbeeren waren
seine einzige Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es
die herabgefallenen Nüsse und Blätter und trug sie in die Höhle, die Nüsse waren im
Winter seine Speise, und wenn Schnee und Eis kam, so kroch es wie ein armes Tierchen in
die Blätter, dass es nicht fror. Nicht lange, so zerrissen seine Kleider und fiel ein
Stück nach dem andern vom Leib herab. Sobald dann die Sonne wieder warm schien, ging es
heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten
wie ein Mantel. So sass es ein Jahr nach dem andern und fühlte den Jammer und das Elend
der Welt.
Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der König
des Landes in dem Wald und verfolgte ein Reh, und weil es in das Gebüsch geflohen war,
das den Waldplatz einschloss, stieg er vom Pferd, riss das Gestrüppe auseinander und hieb
sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er endlich hindurchgedrungen war, sah er unter dem
Baum ein wunderschönes Mädchen sitzen, das sass da und war von seinem goldenen Haar bis
zu den Fusszehen bedeckt. Er stand still und betrachtete es voll Erstaunen, dann redete er
es an und sprach: "Wer bist du? Warum sitzest du hier in der Einöde?"
Es gab aber keine Antwort, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der
König sprach weiter: "Willst du mit mir aufs Schloss gehen?" Da nickte es nur
ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd und ritt
mit ihm heim, und als er auf das königliche Schloss kam, liess der ihm schöne Kleider
anziehen und gab ihm alles im Überfluss. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so war
es doch schön und holdselig, dass er es von Herzen liebgewann, und es dauerte nicht
lange, vermählte er sich mit ihm.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur
Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau
Maria und sprach: "Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, dass du die verbotene
Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben:
verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes
Kind mit mir." Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt
und sprach: "Nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht", und die
Jungfrau Maria nahm das neugeborene Kind ihr aus den Armen und verschwand damit.
Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel
unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind
umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es
nicht glauben, weil er sie so lieb hatte.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat
auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: "Willst du gestehen, dass du
die verbotene Türe geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge
lösen: verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborne
mit mir." Da sprach die Königin wiederum: "Nein, ich habe die verbotene Türe
nicht geöffnet", und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich
in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz
laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, dass sie
sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, dass er es nicht glauben
wollte, und befahl den Räten bei Leibes- und Lebensstrafe, nicht mehr darüber zu
sprechen.
Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da
erschien ihr zum drittenmal nachts die Jungfrau Maria und sprach: "Folge mir."
Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden
ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin
darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: "Ist dein Herz noch nicht erweicht? Wenn
du eingestehst, dass du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden
Söhnlein zurückgeben." Aber die Königin antwortete zum drittenmal: "Nein, ich
habe die verbotene Tür nicht geöffnet." Da liess sie die Jungfrau wieder zur Erde
hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
Am andern Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut: "Die
Königin ist eine Menschenfresserin, sie muss verurteilt werden," und der König
konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und
weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem
Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl
festgebunden war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des
Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte: "Könnt ich nur noch vor
meinem Tode gestehen, dass ich die Tür geöffnet habe," da kam ihr die Stimme, dass
sie laut ausrief: "Ja, Maria, ich habe es getan!" Und alsbald fing der Himmel an
zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die
Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das
neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: "Wer seine Sünde
bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben," und reichte ihr die drei Kinder, löste
ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben.
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